Martha und Iris sitzen an einem sonnigen Nachmittag im Juli in ihrem Lieblingscafé und genießen ihre Kaffees. Das Gespräch verläuft vertraut und entspannt, bis Martha ein Thema anspricht, dass für Iris schwierig wird.
"Martha," beginnt Iris, "was denkst du über meinen neuen Job? Ich bin schon so aufgeregt, und auch echt nervös!"
Martha nippt an ihrem Kaffee und sagt: "Ehrlich gesagt, Iris, ich bin mir nicht ganz sicher, ich habe von Bekannten gehört, dass in dieser Firma extrem viel Leistung und Einsatz gefordert wird."
Diese Worte treffen Iris wie ein Blitz. In ihrem Inneren kocht sofort eine übermäßige Wut hoch. Sie fühlt sich missverstanden und verletzt von ihrer besten Freundin, die sie eigentlich bis jetzt immer unterstützt hat.
"Martha, das ist ja wohl das Letzte!" faucht Iris und springt auf. "Wie kannst du so etwas sagen? Gerade du solltest wissen, wie viel mir dieser Job bedeutet und wie hart ich dafür gearbeitet habe!"
Was ist hier genau passiert?
Situationen wie diese, kennst du vielleicht aus deinen persönlichen Erfahrungen. Es kommt zu einem Reiz (Antwort von Martha) und es folgt in der Sekunde darauf eine Reaktion (die Wut von Iris auf ihre Freundin).
Diese Reaktion von Iris kommt hier nicht durch bewusstes Denken und Beurteilen der Situation im Hier und Jetzt zustande, sondern erfolgt unbewusst als Impuls. Und dieser unbewusste Impuls hat sehr viel zu tun mit den "programmierten" Glaubenssätzen und Werten von Iris, die sich aufgrund ihrer Erfahrungen während der Kindheit und Jugend in ihr gefestigt haben.
Iris ist in einem Elternhaus aufgewachsen, indem Leistung ganz weit oben in der Bewertung stand. Klein-Iris wurde gelobt, wenn sie gut in der Schule war oder in anderen Dingen, wie Klavier spielen, entsprechende Erfolge hatte. Je mehr Ehrgeiz sie zeigte, desto glücklicher waren ihre Eltern. Gab es einmal Misserfolge oder Fehler, wurde Iris mit tadelnden Worten bedacht oder auch beschämt.
Der Begründer der Logotherapie Viktor Frankl war fest davon überzeugt, dass es immer und scheint die Situation noch so ausweglos, eine Möglichkeit gibt das eigene, persönliche "Reiz-Reaktions-Muster" zu durchbrechen.
"Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit."
Sehr empfehlenswert dazu ist, sein Buch "Und trotzdem JA zum Leben sagen" zu lesen, in dem er von seiner Zeit im Konzentrationslage berichtet und seine Strategien, dieses überlebt zu haben.
Allerdings gibt es diesen Gedanken schon seit viel längerer Zeit und Viktor Frankl hat ihn vielleicht aufgegriffen und für sein Leben und seine Arbeit weiterentwickelt. Der persische Mystiker Rumi der im 13. Jahrhundert lebte, hat schon Folgendes geschrieben:
„Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum: Nur dort kann Begegnung stattfinden. Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum: Nur dort findet Heilung und Entwicklung statt. Zwischen Richtig und Falsch gibt es einen Ort. Dort werden wir uns begegnen.“
Gerne gebe ich diesen Gedanken auch Klient:innen in meiner Praxis mit und versuche mich auch selbst immer wieder daran zu erinnern.
Bestimmt kennen alle von uns diese Situationen und diese Dynamiken. Und auch das was dann nach so einer impulsiven Reaktion folgt...nämlich meist noch mehr Ärger, Unverständnis, Beziehungsabbrüche, Hilflosigkeit und viele andere, schwierige Gefühle mehr.

Was tun?
Nun ja, ich würde sagen was nun folgt ist alles andere als einfach, aber es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, sich diese neuen Strategien Schritt für Schritt, in seinem eigenen Tempo, anzueignen.
Es würde ganz simpel gesagt, darum gehen, schneller und bewusster zu identifizieren, was da gerade, in diesem Moment, passiert.
Gehen wir zum Beispiel der beiden Freundinnen zurück.
Wie könnte Iris sich anders, im Sinne des Reiz-Reaktions-Modell, verhalten?
Wichtig ist meines Erachtens, dass man gut in Verbindung mit dem eigenen Körper und dessen Botschaften ist.
Martha gibt diese besagte Antwort und Iris fühlt hochwahrscheinlich in ihrem Körper eine Reaktion darauf. Vielleicht einen Druck in der Brust, vielleicht meldet sich ihr Magen, vielleicht wird es im Hals ganz eng,...was auch immer, es ist ein Zeichen, dass irgendetwas gerade tief in ihr berührt wird.
Und dann - genau hier zu diesem Zeitpunkt - wäre es notwendig, dass Iris eine kleine oder auch gerne mal eine größere Pause macht. Um nachzuspüren und zuzuordnen was da gerade passiert ist, welche Punkte diese Aussage von Martha in ihr berührt hat und welche Verbindungen es da eventuell zu ihrer Biografie gibt.
Und im Anschluss daran wäre es gut, wenn Iris sich ganz bewusst in ihr Erwachsenen-Ich begibt und überlegt, wie sie auf diese Worte von Martha reagieren möchte. Nur dann ist Iris im Hier und Jetzt, bewertet als erwachsene Iris diese Worte ihrer Freundin und kann ganz bewusst wählen, wie sie diesen begegnen möchte.
Vielleicht hätte Iris Martha dann gefragt, wie sie das genau meint oder sie hätte ihr mitgeteilt, dass dies gerade in ihr einen verletzen Punkt von früher trifft und es sie an das Verhalten ihrer Eltern erinnert. Was und wie auch immer, es wäre jedenfalls weit weg vom ursprünglichen Impuls.
Gedanken, die hier helfen können:
Du kannst am Reiz selbst in den meisten Fällen nichts verändern, aber auf jeden Fall an deiner Reaktion darauf.
Versuche dir immer wieder bewusst zu machen, dass es einen Raum gibt, zwischen einem Reiz im Außen und einer Reaktion in deinem Inneren. Nur so kannst du dich ganz bewusst für eine bewusste, erwachsene, überlegte Reaktion entscheiden.
Überlege mal für dich, in welchen Situationen, auf welche Aussagen, etc. du sehr emotional und impulsiv reagierst und reflektiere welche Zusammenhänge es da mit deinen bisherigen Erfahrungen und deiner Biografie geben könnte. Und vielleicht kannst du dich auch zukünftig ein bisschen auf solche Situationen vorbereiten.
Spontaneität ist zwar eine ziemlich großartige Eigenschaft - aber definitiv nicht in diesem Zusammenhang.
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